Wir trauern um Gerd Ruge
Am 15. Oktober 2021 mussten wir uns von Reporterlegende Gerd Ruge verabschieden. Für FIRST STEPS war und bleibt er nicht nur Ehrenpreisträger und langjähriges, hoch geschätztes Jurymitglied, sondern ein Filmemacher und Mensch, der mit Neugier und Wohlwollen auf die jungen Filmschaffenden und ihre Ideen geblickt hat.
Andrea Hohnen, langjährige künstlerische Leiterin von FIRST STEPS erinnert sich.
Ein Nachruf von Andrea Hohnen
Als Gerd Ruge 2011 den FIRST STEPS Ehrenpreis erhielt, erinnerte sich der Dokumentarfilmer Uli Gaulke in einer herzerwärmenden Laudatio an „unseren Mann in Moskau“, denn das war die Reporterlegende eben auch für einen Heranwachsenden in der DDR. Als Stipendiat der Gerd-Ruge-Stiftung begegnete er dem „Idol seiner Kindheit“ schließlich persönlich: „Er ist überall präsent, wo es gilt, Geburtshelfer für die Ideen junger Filmemacher zu sein. Er schaut jeden unserer Filme zu Ende, liest unsere verrückten Konzepte und freut sich wie ein Kind über all das, was wir fabrizieren.“
Mit dieser Haltung hat Gerd Ruge als Juror FIRST STEPS seit der ersten Ausgabe im Jahr 2000 begleitet. Auf einem der raren Fotos aus diesem ersten Jahr steht er aufgeräumt neben Iris Berben und Bernd Eichinger, Fluppe in der Hand. Unternehmungslustig sieht er aus, und genau so ging er die Begegnung mit dem Nachwuchs an, fast zwei Jahrzehnte lang.
Als Laudator gab er dem Dokumentarfilmpreis Gesicht und Gewicht, sein Renommee war Garant für die Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die das dokumentarische Genre von Anfang an hatte. Weil er so prägend war, durfte er als Einziger die maximale Aufenthaltsdauer von drei Jahren in der First Steps Jury überschreiten, das war quasi eine „Lex Ruge“. Gerd Ruge war dabei, wann immer und solange er konnte. Oft kam der damals schon über 80-Jährige direkt von einem „Unterwegs“-Dreh in die Jurysitzung, vom Balkan, aus Afghanistan, den USA. Einmal musste er einen jungen Kameramann nach Hause schicken, der die Hitze nicht aushielt, das war so ein typisches Ruge-Understatement. Nicht umsonst attestierte ihm seine Frau, dass er als Rentner ein Versager sei.
Es war ein Geschenk, geradezu ein Verjüngungsritual, Gerd Ruge als Juror zu erleben, da war er ein Vorbild wie in seiner journalistischen Arbeit: die personifizierte Aufforderung, Scheuklappen und Vorurteile abzulegen. Er ging auf die jungen Kolleg·innen und ihre Werke zu wie auf seine Gesprächspartner in den berühmten Reportagen: unprätentiös, offen und ehrlich interessiert, mit Respekt und Aufmerksamkeit.
Jetzt ist Gerd Ruge im Alter von 93 Jahren gestorben. Ich bin sicher: Er ist wieder unterwegs. Er stellt den Jenseitigen Fragen zu ihren Aufgaben und Meinungen, wirft vielleicht sogar ab und zu einen Blick auf uns und entdeckt etwas, von dem er sagen wird: „Ach, das ist ja interessant!“
Andrea Hohnen, bis 2019 künstlerische Leiterin FIRST STEPS